Evangelische
Versöhnungsgemeinde Oberursel
Kirchengemeinde für Stierstadt und Weißkirchen
Geistlicher Impuls
die Herrnhuter Tageslosung

Boias-Frias-Projekt

Die Versöhnungsgemeinde fördert seit vielen Jahren ein Projekt in der südbrasilianischen Stadt Santo Antonio da Platina, das die arme Bevölkerung unterstützt. Ursprünglich waren es vor allem Erntetagelöhner und deren Kinder. Diese in Armut lebenden, oft nicht des Lesens und Schreibens kundigen Menschen wurden und werden „Boias–Frias“, „Kaltesser“, genannt, weil sie während des Tages kein warmes Essen zu sich nehmen.

Durch die tiefgreifenden technischen Veränderungen in der Landwirtschaft arbeiten diese Menschen heutzutage allerdings weitgehend in anderen schlecht bezahlten und unsicheren Jobs oder sie sind ohne Einkommen.

Das Herz des Projektes ist ein Hort, in dem etwa 100 Kinder und Jugendliche schulische Nachhilfe bekommen und mit Essen versorgt werden. So müssen sie nicht zum Lebensunterhalt der Familien beitragen, sondern erlangen einen Schulabschluss, der ihnen eine Zukunftschance bietet.

Wenn Sie auch das Projekt unterstützen wollen, können Sie Geld auf folgendes Konto der Ev. Versöhnungsgemeinde überweisen:

IBAN: DE45 5206 0410 0004 1037 50
Evangelische Bank, Kassel,
BLZ 520 604 10
BIC: GENODEF1EK1

Neues vom Boias-Frias-Projekt



Sandra, die Leiterin des Verwaltungsbereichs des Projektes, und ich telefonieren natürlich nicht das erste Mal miteinander, aber heute fühlt es sich anders an.

Endlich sind meine Frau und ich wieder in Brasilien. Die Pandemie hatte dies für eine lange Zeit unmöglich gemacht. Schon im März dieses Jahres hatten wir die Koffer gepackt, doch dann machte uns Corona einen Strich durch die Rechnung. Einen Tag vor dem Abflug wurde meine Frau positiv auf Covid getestet. Wir mussten alles absagen. Nun hatten wir den zweiten Versuch gestartet und mit Einschränkungen klappte es, denn drei Tage vor dem Abflug erwischte es diesmal unsere Tochter Marina, die deshalb leider nicht mitfliegen konnte. Wegen der langen Zeit, in der wir die Familie meiner Frau nicht besuchen konnten, hatten wir uns entschieden, diesmal nicht zum Projekt zu fahren, sondern fast den gesamten Urlaub bei meinem Schwiegervater zu verbringen.
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Folglich bleibt nur das Telefon, aber ich fühle mich natürlich im wahrsten Sinne des Wortes näher dran. Und Bildtelefon macht manches einfacher. Direktes „Hallo“ mit Deia, der pädagogischen Leiterin, und der Köchin Isabel oder auch mit Carlinhos, der seit vielen Jahren tatkräftig mitarbeitet. Die Kinder im großen Saal winken in die Kamera, rufen einen Gruß und spielen dann weiter.

Sandra hat einiges zu berichten.
Insgesamt werden momentan 104 Kinder und Jugendliche betreut. Das Projekt arbeitet wieder im Vor-Corona-Rhythmus, also mit zwei Gruppen, eine vormittags und eine nachmittags, immer in Ergänzung zur jeweiligen Unterrichtszeit der Kinder in den öffentlichen Schulen. Das ist eine sehr gute Nachricht, denn in Coronazeiten mussten die zwei Gruppen in vier geteilt und folglich die Betreuungszeit halbiert werden.

Die Kinder jeder Gruppe nehmen während der Betreuung zwei Mahlzeiten zu sich. Sie werden entsprechend ihrer Schuljahre und ihrer Lernfähigkeiten und -schwierigkeiten in Gruppen aufgeteilt, um Förderunterricht zu erhalten. Der Bedarf ist hoch. Die Schulen melden sich mit vielen Anfragen.
Daneben gibt es verschiedene weitere Angebote wie Sport, Kampfsport, Umweltaktionen, Ethik, Religion. Auch wird Lernmaterial zur Verfügung gestellt. Für die Erwachsenen und die ganze Familie werden Vorträge u.a. zu den Themen Hygiene und Sauberkeit, Drogen, häusliche Gewalt, Umweltschutz angeboten.

Eine Psychologin kümmert sich um Kinder mit seelischen Problemen. Auch Sandra hat eine psychotherapeutische Ausbildung absolviert und arbeitet mit bedürftigen Kindern.

Viele Ursachen der Nöte entstehen durch das Fehlen familiärer Strukturen. Auch gibt es zum Teil kein ausreichendes Essen zu Hause, Kinder werden sich selbst überlassen, manche Eltern setzen keine Grenzen mehr, sexuelle Gewalt ist gegenwärtig.

„Unsere soziale Mission bleibt bestehen“, meint Sandra.

Die finanzielle Situation des Projekts ist – wie meist in seiner Geschichte - nicht einfach. Die Stadt Santo Antonio übernimmt zum Teil die Gehälter der Angestellten, eine Genossenschaftsbank gibt 5000 Reais pro Monat für das Essen, die methodistische Gemeinde vor Ort steuert einen Mindestlohn bei, die Regionalkirche 5800 Reais monatlich, verringert aber Jahr für Jahr die Unterstützung (ab 2023 werden es nur noch 4640 Reais sein). Es bleiben Löcher zu stopfen. So verschluckt die Instandhaltung der Gebäude viel Geld, ebenso ein Anteil der Gehälter und bestimmte Steuern.

Die Unterstützung der Versöhnungsgemeinde trägt dazu bei, diese Kosten zu finanzieren. Sandra erzählt von kreativen weiteren Ideen. So wird das Projekt wie die öffentlichen Schulen mit Milch für die Kinder beliefert. Wenn Milch übrig bleibt, machen die Erwachsenen daraus manchmal Käse und verkaufen ihn wieder an Interessierte. Der
Erlös soll den Kindern zugutekommen. Und das tut er auch.

Da ist z. B. Eduardo, der inzwischen 12 Jahre alt ist. Er wurde mit sechs Jahren im Hort aufgenommen. Sein Vater ist Alkohol- und Drogenkonsument. Eduardo meint, er sei eigentlich ein guter Vater, aber wenn er Drogen zu sich nehme, werde er gewalttätig gegenüber den älteren Geschwistern und der Mutter, einer, so Sandra, guten und ehrlichen Frau. Eduardo war, als er ins Projekt kam, sehr aggressiv und litt unter starken Stimmungsschwankungen. Die Mitarbeiter/innen des Projektes arbeiteten mit ihm und er bekam psychologische Orientierung. Auch seine Mutter wurde betreut. Heute hat er diese Probleme überwunden, er ist in der Lage zu lernen, nimmt an den Aktivitäten des Projektes teil und hat die Perspektive eines besseren Lebens.

„Glaubst du, dass sich die Situation mit der Präsidentenwahl am 2. Oktober verbessert?“, frage ich Sandra auf die mögliche Ablösung des umstrittenen Präsidenten Bolsonaro anspielend. Sie hat nicht viel Hoffnung. „Wer immer gewählt wird, die Korruption wird bleiben. Wir müssen uns einfach darauf konzentrieren, unsere Arbeit mit den Kindern zu machen.“
Nach der Wahl ist eben vor der Wahl.

Ihr Jörg Oeding
Sao Bernardo do Campo, 27.9.22