Bericht von Jörg Oedimg vom Oktober 2018
„Und jetzt gehe ich zur Polizei...“
Anlässlich des 85. Geburtstages meines Schwiegervaters Ende September reisten meine Frau und ich und zwei unserer Kinder nach Brasilien. Natürlich stand auch das Boias-Frias-Projekt auf unserem Programm.
Morgens um 6.00 fahren wir in Sao Paulo los, eine Fahrt von sechs und ein halb Stunden. Viele der Autobahnen, im Staat Sao Paulo sind in einem sehr guten Zustand. Leider werden auch recht hohe Gebühren erhoben. Nicht billig für Menschen, die diese Straßen jeden Tag benutzen müssen.
Um 12.45 Uhr kommen wir an. Deia, die pädagogische Leiterin und Sandra, die Leiterin des Verwaltungsbereiches, begrüßen uns herzlich. Auch Carlinhos, einer der Angestellten, der dort seit vielen Jahren arbeitet, ist da. Er stammt aus einer einfachen, armen Familie und hat eine sehr helle rötlich-blasse Haut. Sein Vater war deutscher Einwanderer, aber Carlinhos erinnert sich nicht, aus welcher Region er stammte. „Eines Tages will ich auch nach Deutschland reisen, um zu sehen, wie es dort ist“, meint er.
Auch Mari, die Sekretärin lernen wir kennen. Neben den typischen Arbeiten in der Verwaltung ist sie auch für den Einkauf der Lebensmittel zuständig. Sie erzählt uns vom täglichen Kampf um günstige Einkaufspreise und dass die Händler manchmal einen niedrigeren Preis erheben, weil sie die Arbeit des Projekts unterstützen wollen. Sie macht auf uns einen sehr sympathischen, aber auch kompetenten Eindruck.
Sandra ist ein Energiepaket, Deia wirkt viel ruhiger, aber auch sehr konzentriert. Mir scheint, dass sich beide mit ihren unterschiedlichen Persönlichkeiten ergänzen. Sie berichten von den Veränderungen der letzten Jahre. Im Grunde stammen heute nur noch wenige Kinder aus Tagelöhnerfamilien. Die landwirtschaftlichen Arbeiten der Boias-Frias sind in der Vergangenheit mechanisiert worden. Die Eltern sind in einfachen anderen Jobs tätig oder arbeitslos. Sie gehören – wie Sandra sagt – einer sozial verwundbaren Schicht an. Viele haben mit Drogen zu tun.
Nicht wenige sind in Drogengeschäfte verwickelt. Manche Kinder arbeiten für die sogenannten „Traficantes“, die Drogenhändler. Sie sind manchmal erst 9,10,11 Jahre und wollen sich mit dem Geld z. B. ein Smartphone kaufen. Mit der Zeit nehmen sie dann selbst Drogen, vor allem das zerstörerische Crack, weil es sehr billig ist.
Ziel des Projektes ist es die Kinder und Jugendlichen von der Straße, also aus diesem Milieu zu holen.
Seltsamerweise scheinen das selbst die Drogenchefs zu würdigen. Anders ist kaum zu erklären, dass in das Projekthaus in all den Jahren nahezu nie eingebrochen wurde.
Insgesamt werden im Moment 106 Kinder aus dem Viertel, wo sich das Projekt befindet, betreut. Es besteht eine Warteschlange von ca. 70 weiteren Kindern. Und es gibt Anfragen aus anderen Vierteln. Für die Projektleitung haben jedoch die Kinder aus dem eigenen Wohnumfeld Priorität.
Die Herausforderungen sind groß. Sandra beschäftigt gerade der Fall einer ehemaligen 15-jährigen Schülerin des Projekts. Sie hatte einer Lehrerin erzählt, dass sie von ihrem Großvater missbraucht werde. Ihre Mutter ist drogenabhängig und glaubt ihr nicht. Sandra nimmt sich der Sache an. Sie schlägt dem Mädchen vor, den Missbrauch bei der Polizei anzuzeigen. Sie müsse dann aber auch aussagen. damit Polizei und Sozialinstitutionen tätig werden können. Das Mädchen ist einverstanden, Nach der Anzeige wird ein Kind normalerweise aus der Familie genommen, um in einer Pflegefamilie zu leben.
Deia und Sandra zeigen uns einige Anschaffungen und Renovierungen des Projekts. Der Hauptsaal, in dem auch gegessen wird, ist sehr schön und ansprechend renoviert worden.
In der Küche findet sich ein professioneller Kühlschrank. Daneben sind ein für eine Großküche geeigneter neuer Gefrierschrank, eine Mikrowelle und ein Herd angeschafft worden. Auf den Einkauf qualitativ guter Lebensmittel wird Wert gelegt. Und wirklich, das Mittagessen ( Reis, Bohnen, ein Stück Fleisch und Salat ) schmeckt sehr lecker, wie zu Hause gekocht. Das Projekt hat eine Lehrerin angestellt, die mit besonders verhaltensauffälligen Kindern einzeln oder in Kleingruppen arbeitet. Natürlich gibt es auch die anderen ( durch Mittel der Stadt finanzierten ) Lehrkräfte für die Hausaufgaben- und Nachhilfearbeit. Deia koordiniert die Arbeit der Pädagoginnen.
Zwei Tage in der Woche wird für die Kinder Jiu Jitsu angeboten, an zwei weiteren Tagen Musikprojekte, außerdem findet allgemeiner Sport statt – immer geleitet durch Fachkräfte. Durch die Stärkung ihrer kreativen, physischen und spirituellen Talente sollen die Kinder Selbstvertrauen entwickeln. Einmal pro Woche gibt es einen Bibelunterricht, bei dem ethische Grundprinzipien vermittelt werden.
Die Kinder sollen sich im Projekt nicht anschreien, beleidigen und verletzen. Sie erleben hier Respekt und lernen respektvoll gegenüber anderen zu sein. Dieses Ambiente, so Sandra, tut ihnen gut. Sie erleben eine Erfahrung, die sie in den Familien und auf der Straße oft nicht machen.
Wir schauen uns das Jiu Jitzu-Training an und hören eine berührende Musikpräsentation von etwa 16 Kindern mit Flöten, Percussioninstrumenten und zwei Sängern. Die Kinder singen:
„Jesus gibt dich nicht auf,
für ihn bist du wichtig.
Er versteht deine Weg...“
Ein Junge, der hingebungsvoll ins Mikro singt, fällt uns besonders auf. Sandra erzählt, dass beide Eltern Drogen nehmen. Daher lebt er seit einiger Zeit beim Großvater. Dessen Partnerin behandle die Kinder aber sehr schlecht. Sandra hat mit ihr geredet und die Sache angesprochen. Danach durfte der Junge nicht mehr ins Projekt. Darauf ging Sandra zum Großvater und drohte: „Wenn Sie den Jungen nicht mehr kommen lassen und wir nicht beobachten können, wie es ihm geht, werden wir die Behörden einschalten. „ Darauf durfte der Junge wieder in den Hort zurückkehren.
Unser Eindruck ist: Hier wird so leicht kein Kind und kein Jugendlicher aufgegeben. Und gar nicht selten sind mutige und tiefgreifende Maßnahmen notwendig.
Unsere Zeit neigt sich dem Ende zu. Der Weg zurück ist weit. Sandra erklärt uns den schnellsten Weg zu einer Tankstelle. „Und jetzt gehe ich zur Polizei, den Fall des Mädchens anzeigen“, sagt sie und dann verabschieden wir uns.
Wenn Sie das Projekt unterstützen wollen, können Sie Geld auf folgendes Konto der Ev. Versöhnungsgemeinde bei der Evangelische Bank, Kassel, einzuahlen: IBAN: DE45 5206 0410 0004 1037 50, BIC: GENODEF1EK1
Ihr Jörg Oeding
Sandra Regina da Silva, die Vorsitzende des Projekts, hat uns geschrieben, wofür das gespendete Geld der Versöhnungsgemeinde und anderer Unterstützer im Jahr 2017 verwendet wurde. Ich habe da und dort noch eine Erklärung hinzugefügt.
1 Euro entsprachen meines Wissens im Jahr 2017 etwa 3,40 – 3,90 Real.
10.000 Real: Erhaltung und Renovierung des Gebäudes
10.000 Real: Zuschuss zur Beendigung eines Gewächshauses
5.000 Real: Materialien für die Sportangebote (Die Kinder sollen eine Alternative zur Freizeit „auf der Straße“ bekommen und Selbstwert, Regeln und Körpergefühl lernen.)
3.000 Real: Lebensmittel aus dem Supermarkt (Ist für die Mahlzeiten gedacht, die die Kinder im Hort zu sich nehmen, womit sie die Familienkasse entlasten.)
3.000 Real: Früchte und Gemüse (ebenfalls für die Mahlzeiten)
2.400 Real: Geburstagsfeiern für die Kinder (Jedes Kind wird, wenn es Geburtstag hat, mit einer kleinen Feierlichkeit gewürdigt, um seine Wichtigkeit zum Ausdruck zu bringen.)
2.000 Real: Schulmaterialien (für die schulunterstützende Arbeit des Hortes, z. B. Hausaufgabenhilfe und Nacharbeitung des Unterrichtsstoffes)
500 Real: Medikamente für erste Notversorgungen (Es gibt in Brasilien zwar eine kostenlose medizinische Versorgung, aber die Wartezeiten sind oft lang und bestimmte Medikamente kosten Geld.)
400 Real: Ausgaben für andere Festivitäten des Projekts
Wenn Sie das Projekt unterstützen wollen, können Sie Geld auf folgendes Konto der Ev. Versöhnungsgemeinde überweisen:
IBAN: DE45 5206 0410 0004 1037 50
Evangelische Bank, Kassel, BLZ 520 604 10
BIC: GENODEF1EK1
Ihr Jörg Oeding